Zur landeskundlichen Bedeutung der Mundartvielfalt

Eine Stimme von Frau Dr. Charlotte Rein,
LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte

Der Kreis Heinsberg ist nicht nur aus geographischer Perspektive – liegt hier schließlich der westlichste Punkt der Bundesrepublik – sondern auch aus sprachgeographischer Perspektive etwas Besonderes. Denn das Gebiet, das im „Mundart-Atlas von Schwalm und Rur bis an die Maas“ vorgestellt wird, weist eine große Mundartvielfalt auf. Diese ist bedingt durch die Nähe zu verschiedenen Isoglossen (= ‚Sprachgrenzen‘). Nahe der Südgrenze des Kreises verläuft eine der bekanntesten Isoglossen des deutschen Sprachraums: die Benrather Linie, an der sich hochdeutsche und niederdeutsche Dialekte gegenüberstehen. Im äußersten Westen Deutschlands treffen sich hier ripuarische und südniederfränkische Dialekte. Im Ripuarischen, südlich der Benrather Linie, ist das alte germanische k zu ch verschoben worden: maache ‚machen‘, Loch ‚Loch‘, Kooche ‚Kuchen‘. In den nördlichen, südniederfränkischen Dialekten, die im Kreis Heinsberg gesprochen werden, blieb das alte k erhalten: maake, Look, Kook. Gleiches gilt für die alten Laute p und t: Piep – Pief ‚Pfeife‘, lope – lofe ‚laufen‘, twee – zwei ‚zwei‘, Water – Wasser ‚Wasser‘. Von den meisten ripuarischen Mundarten unterscheidet sich das Südniederfränkische lautlich außerdem durch die Vokalisierung von l in bestimmten lautlichen Umgebungen: Unter anderem heißt es hier aut ‚alt‘, haute ‚halten‘ oder jevaut ‚gefaltet‘. Doch Isoglossen sind keine strikten Grenzen, Dialektgebiete gehen fließend ineinander über und es entstehen Übergangsgebiete. Dies trifft ebenfalls auf die Dialekte im Kreis Heinsberg zu, insbesondere im Süden. So findet man im Mundart-Atlas für ‚sagen‘ sowohl die Variante segge (wie im nördlichen Südniederfränkischen) als auch die Form saare (wie im Ripuarischen). Auf den Sprachkarten des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte wird diese Vielfalt ebenfalls sichtbar. Für den Kreis Heinsberg wurden für den ‚Schluckauf‘ im Dialekt die Bezeichnungen Hick(s), Schlick(s) und Schluckauf angegeben, die ‚Zwiebel‘ heißt Öllich oder Öllek, im Selfkant Önn. Auch in der Grammatik gibt es Variation: Im Selfkant fährt man dä Auto, in Heinsberg oder Gangelt auch et Auto.

Die Westgrenze des Kreises ist identisch mit der deutsch-niederländischen Staatsgrenze. Zwar werden dies- und jenseits der Landesgrenze heute unterschiedliche Standardsprachen gesprochen, sprachhistorisch handelt es sich aber um ein Dialektkontinuum, das sich bis zum belgischen Brabant zieht. Entsprechend konnten (und können) sich deutsche und niederländische Dialektsprecherinnen und -sprecher gut miteinander verständigen. Besonders auffällig sind die Gemeinsamkeiten im Selfkant. Auf beiden Seiten gilt beispielsweise die „Sittarder Diphthongierung“ – Beejer ‚Bier‘, gout ‚gut‘ – und die „Moullierung“ – Mundj ‚Mund‘, Linjeboom ‚Lindenbaum‘, Selfkantj ‚Selfkant‘.

Die Beispiele zeigen deutlich: Den einen Dialekt im Kreis Heinsberg gibt es nicht. Diese Mundartvielfalt bildet der vorliegende Mundart-Atlas mit den zahlreichen Dialekttexten eindrücklich ab und ermöglicht einem breiten Publikum einen Einblick in regionale Sprache des Kreises Heinsberg.

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“Der „Mundart-Atlas von der Schwalm und Rur bis zur Maas“ ist als „Appetithäppchen“ gedacht und soll Interesse am Plattdeutschen wecken – idealerweise auch bei Menschen, die noch so jung sind, dass sie die Muttersprache an die folgenden Generationen weitergeben können.”

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Stephan Pusch
Landrat des Kreises Heinsberg

“Der Mundart-Atlas der Heimat- und Kulturvereine von Schwalm und Rur bis an die Maas zeigt den Leserinnen und Lesern wie Hörerinnen und Hörern, wie es in der Region gewesen ist, nicht nur, in welchen Ortsmundarten die Menschen sich ausgetauscht haben, sondern auch, wie die Sprachen der Region sie geprägt haben.”

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Dr. Prof. Wich-Reif
Institut für Germanistik der Uni Bonn